Tücken der Argumentation

Jede Interpretationsmethode hat ihre Vor- und Nachteile, hier eine kleine Auswahl:

Einzelinterpretation: Bei der Interpretation von einzelnen Werken kann man einen Text ganz intensiv betrachten und sich wirklich dessen Machart und Bildprogramm widmen. Es besteht nur die Gefahr, dass man zum:r Kritiker:in wird, weil die Interpretation oft als Ziel eine Auf- oder Abwertung des Gegenstandes zur Folge hat, also beispielsweise das Aufwerten von bislang nicht kanonisierten Texten oder das Aufdecken von ideologischen Mängeln.

Diskursanalyse: Das Gegenüberstellen von Texten unterschiedlichster Herkunft hat den Vorteil, überraschende Querverbindungen und Aussagekontinuitäten zu zeigen und Wenig-Bekanntes zu entdecken; der Nachteil besteht aber darin, einzelne Schriften in ihrer Bedeutung überzubewerten. Der New Historicism hat sich diesem Problem selbstbewusst gestellt, indem er immer von Anekdoten ausgeht und aus diesen dann Kontexte erschließt.

Digital Humanities: Auch wenn man damit ganz viel Literatur und gewissermaßen den ‚Höhenkamm‘ zusammen mit seinem ganzen ‚Schotter‘ berücksichtigen kann, hat das ‚distant reading‘ (im Gegensatz zum ‚deep reading‘ der Einzelinterpretation) das offensichtliche Problem, dass man viel Text erfasst, aber wenig Interpretation dazu liefern kann, weil man sich nie mit konkretem Inhalt beschäftigt. Thesen sind, je größer sie sind, meistens falsch oder zumindest nicht ganz richtig.

Dekonstruktion/Poststrukturalismus: Die ganz genaue Lektüre von Text kann oft faszinieren und Unerwartetes zeigen, hat aber zwei Nachteile: Manchmal geht es zu Kosten der Verständlichkeit und irgendwann wird alles beliebig. Jeder Text hat, wenn man ihn genau anschaut, das Problem, dass man gewisse rhetorische Figuren oder Argumentationen immer in ihm findet. Hierzu noch einige Ergänzungen: 1.) Ein aus der Ideologiekritik und dann der Dekonstruktion stammendes Argument besagt, dass Texte häufig einen Selbstwiderspruch aufzeigen, ‚nicht praktizieren, was sie predigen‘. Dies kann sich auf allen Ebenen finden lassen, der Bildlichkeit, der Rhetorik, der Aussage etc. Eine berühmte Interpretation ist etwa diejenige Paul de Mans zu Marcel Proust, der zeigte, dass Proust zwar im Inhalt seiner Recherche ein metaphorisches Prinzip vertrat, praktisch aber metonymisch arbeitete. Häufig führen solche Selbstwidersprüche auch in Aporien, unlösbare Dilemmata. Ein Problem dieser Argumentation ist immer, dass man den Status, der hinterfragt wird, erst einmal konstruieren muss. 2.) Eine weiteres Argumentationsmuster stammt aus der Psychoanalyse: Die wichtigste Sache wird aufgrund von Selbstzensur unterdrückt und taucht höchstens einmal im Text auf: Aus dem Detail kann man dann den gesamten Text erschließen, weil nur hier die ‚eigentliche‘ Aussage an die Oberfläche gedrungen ist. Eine Variation dieses Arguments lautet: Gerade, weil etwas nie erwähnt wurde (obwohl es für das Thema relevant ist), ist es besonders wichtig. Man kann damit sehr überraschende Interpretationen zeigen und Texte oft ‚gegen den Strich‘ lesen, dabei gerät man aber in die Gefahr der Überbetonung von Marginalem. 3.) Und dies ist auch ein Problem, das oft dem Poststrukturalismus, aber auch der klassischen Hermeneutik, zur Last gelegt wird: Das Ergebnis steht oft vorher schon fest, was man dann als ‚ideologisch‘ abwertet. Dies betrifft häufig auch Interpretationen, die mit Bewertungen oder politischen Einordnungen zu tun haben: Es gibt eine Absicht, ein Ziel, und daraufhin wird der Text gelesen und interpretiert und oft ist die Suche nach der Methode nur die Suche danach, den besten Weg dahin zu finden. Damit löst man sich vom Ideal vorurteilsfreier Forschung. Einige Forschende gehen das aktiv an und sagen, dass auch die Idee der Objektivität und Neutralität kulturell konstruiert ist (was stimmt), aber man sollte dennoch die eigene Position stets markieren. 4.) Ein weiterer Vorwurf, der den Poststrukturalismus trifft, ist derjenige, dass er mehr Kunst als Wissenschaft sei. Es gehe eben auch um die kreative, überraschende, zufällige Kombination von Texten und Argumenten oder das besonders virtuose Ausstellen von Argumentationsfertigkeiten. Allerdings, so ließe sich sagen, wurde das allen Interpretationsmethoden bislang zur Last gelegt, auch der Hermeneutik und besonders der Allegorese.

Narratologie: Gewissermaßen das Gegenbild dazu findet man in der Narratologie. Diese bietet die Chance, einen Text sehr genau in seiner Gemachtheit zu untersuchen. Der Nachteil dabei ist, dass es häufiger zu einer zu kleinteiligen, fast schon buchhalterischen, Analyse kommt, aus der wenig interpretatorischer Gewinn folgt.

Editionsphilologie: Diese Kleinteiligkeit entspricht dem Arbeitsethos der Editionsphilologie, die extrem gut darin ist, die Genese von Texten aufzuzeigen. Allerdings suggeriert die Aura der Handschrift oft eine so große Nähe zum:r Autor:in, dass es auch hier zu interpretatorischen Schnellschüssen kommen kann.

Textvergleich: Wenn man Texte miteinander vergleicht, gibt es immer eine gewisse Kontingenz der Auswahl und man muss begründen, wieso man ausgerechnet diese beiden (oder mehr) Texte in Beziehung setzt. Dies muss auch chronologisch nicht nur in eine Richtung gehen: Manchmal finden sich Gedanken und Methoden, bevor das Konzept erdacht oder so benannt wurde, man sagt dann, das sei „avant la lettre“ ( ‚vor dem Buchstaben‘gekommen.

Intertextualität: Man kann einen Nachweis eines Textes in einem anderen finden. Dabei gibt es verschiedene Optionen: Der eine Text hat den anderen wirklich beeinflusst, was man entweder durch Nachweise in Briefen oder in Exemplaren von Privatbibliotheken oder in ausführlichen Textpassagen finden kann; der eine hat den anderen vielleicht beeinflusst, was man bei ähnlichen Formulierungen sagen kann und hier ist dann die Frage, worauf man abzielt, wirklich auf eine konkrete Beeinflussung oder eher nur auf eine gemeinsame Verarbeitung eines Themas oder auf einen Topos? Die Stärke der Methode besteht darin, Bezüge aufzuzeigen, die einem vielleicht nicht klar sind, etwa Zitate aus Märchen oder der Werbung in Klassikern.

Biographische Interpretation: Die wohl häufigste Form der Interpretation und der häufigste Fehler. Nur um es kurz vorwegzusagen: Es kann immer helfen, sich die Biographien von Schreibenden anzuschauen, um sich gewisse Dinge klarzumachen: Wieso wurde der Text geschrieben? Wieso tauchen gewisse Aspekte auf und andere nicht? Aber: Oft wird dies nur anekdotisch und geht völlig an der Sache vorbei, denn die Literatur wird eben als Dokument gelesen, was sie aber nicht ist, es fehlt völlig die Berücksichtigung der ästhetischen Bearbeitung des Textes.

Fazit: Ein häufiges Problem, das sich beim Umgang mit allen Methoden findet, ist das der Überinterpretation, womit aber auch die Frage einhergeht, ob es in der Literaturanalyse Überinterpretation überhaupt geben kann.